da Sie ja, wie man Ihrem Lebenslauf entnehmen kann [1], studierter Bankkaufmann und Politikwissenschaftler sind, können wir uns vorstellen, dass Sie als unser derzeitiger Gesundheitsminister wenig dazu wissen, wie ein Medizinstudium so abläuft bzw. wie der Alltag in der medizinischen Praxis so aussieht. Deswegen dachten wir von den Medical Students for Choice, dass wir Ihnen ein bisschen davon erzählen.
Das Medizinstudium gilt gemeinhin als sehr naturwissenschaftlich, systematisch aufgebaut, logikorientiert und faktenbasiert. Und wir denken, die meisten unserer Kommiliton*innen werden uns zustimmen, wenn wir sagen „Das ist auch meistens so.”
Schwierig wird es erst, wenn wir spätestens nach dem Studium einmal auf Patient*innen losgelassen werden. Dann müssen wir den Spagat zwischen Theorie und Praxis hinbekommen. Da sieht der Krankheitsverlauf dann auf einmal nicht aus wie im Lehrbuch; ein Patient dürfte statistisch gesehen eine Krankheit gar nicht haben; man ist sich sicher, dass die Patientin krank ist, aber die Laborwerte passen nicht dazu. Warum? Weil Menschen nun mal Menschen sind und trotzdem nicht alle gleich. Aber worauf wir uns verlassen können, sind die Fakten.
Lieber Herr Spahn, wie man Ihren Aussagen der letzten Wochen entnehmen kann, nehmen Sie es mit den Fakten nicht so genau. Eine problematische Angewohnheit angesichts Ihres derzeitigen Amtes. Deswegen wollten wir Ihnen anhand folgender Beispiele nochmal veranschaulichen, wie das mit dem faktenbasierten Argumentieren so geht.
Schauen wir uns mal unseren künftigen Arbeitsalltag aus statistischer Sicht an.
Ein Fakt ist, dass heutzutage die Mehrheit der Medizinstudierenden Frauen sind [2]. Viele unserer künftigen Kolleg*innen werden also Frauen sein.
Frauen machen teilweise über 80% der Arbeitenden in den sozialen Bereichen aus: Erziehung, Kinder-, Kranken- und Altenpflege usw. [3]. Viele unserer Kolleg*innen aus der Pflege werden also auch Frauen sein.
Wie sieht es mit unseren künftigen Rechten und Pflichten aus?
Ein weiterer Fakt ist zum Beispiel, dass wir als Ärzt*innen später einmal dazu verpflichtet sein werden, unsere Patient*innen stets gut und angemessen aufzuklären. Ein anderer Fakt ist, dass Patient*innen in Deutschland ein Recht auf sachliche Informationen haben. Und dass sie ein Recht auf freie Ärzt*innenwahl haben [4, 5, 6].
Wir schreiben den 8. Mai 2018: Fakt ist, § 219a StGB verbietet Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, diese Leistung auf ihrer Homepage zu benennen [7].
Der Fall Kristina Hänel macht uns klar: Unsere Patient*innen einmal vernünftig aufklären zu können, ist nicht nur eine Pflicht, der wir einmal nachkommen müssen. Es ist dann auch unser gutes Recht.
Wir schreiben den 8. Mai 2018: Fakt ist, § 218 StGB verbietet Schwangerschaftsabbrüche [8]. Dieser Paragraph stellt eine absolute Ausnahme in der deutschen Gesetzgebung dar: Ein Schwangerschaftsabbruch ist eine Straftat, die unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt. Legal, im eigentlichen Sinne, ist ein Abbruch nur nach medizinischer oder kriminologischer Indikation. Auch wenn er nicht strafrechtlich verfolgt wird, bleibt ein Abbruch nach Beratungsregelung „rechtswidrig und verwerflich”. So zu entnehmen aus einer Stellungnahme des Bundestags [9].
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden in Deutschland 46,9 % der Frauen, die jemals schwanger waren, mindestens einmal im Leben unbeabsichtigt schwanger. 26,4 % der Frauen, die jemals schwanger waren, werden mindestens einmal im Leben ungewollt schwanger. Rund 40% der ungewollt Schwangeren entscheiden sich für einen Abbruch [10]. Glaubt man den Zahlen des statistischen Bundesamtes, werden in Deutschland jährlich ca. 100.000 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Über 96% davon nach Beratungsregelung [11].
Es folgt also: Dank den §§ 218 und 219a werden in Deutschland in zehn Jahren mindestens eine Million Mal ungewollt Schwangere kriminalisiert und gesellschaftlich stigmatisiert. Sie werden zu einer Pflichtberatung gezwungen, sie werden gegängelt, wie und woher sie ihre Informationen beziehen können [7, 8]. Letzteres aufgrund eines Paragraphen aus dem Jahre 1933.
Lieber Herr Spahn, wenn man Ihre Aussagen so liest, bekommt man auch den Eindruck, dass Sie so Ihre Schwierigkeiten mit Kausalzusammenhängen haben: „Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos“ [12].
Lieber Herr Spahn, einige von uns sind Vegetarier*innen, manche leben sogar vegan. Wir sind auch für die Streichung von § 219a. Wir wollen deswegen aber nicht für Schwangerschaftsabbrüche „werben”. Wir wollen, dass hier und heute, im Jahr 2018, Betroffene wie Interessierte die Informationen bekommen, die Ihnen zustehen – und zwar von den Personen, die Ahnung von dem Thema haben. Aber zwischen unseren Essgewohnheiten und dieser Forderung besteht kein Zusammenhang, also auch kein Widerspruch.
Zur Erinnerung: Kausalität ist die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung[13]. Versuchen wir das einmal anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Länder, die eine restriktive Gesetzgebung zu Schwangerschaftsabbrüchen haben, weisen deswegen keine geringeren Abbruchzahlen auf. Die Abbrüche werden stattdessen illegalerweise und deswegen häufig unter prekären Bedingungen durchgeführt. Die Betroffenen tragen oft nicht nur gesundheitliche und/ oder psychische Schäden von diesen Eingriffen davon, sondern manche sterben sogar daran; der Weltgesundheitsorganisation zufolge jährlich zu Zehntausenden [14]. Dies ist ein Kausalzusammenhang: Die Ursache ist ein unprofessionell durchgeführter chirurgischer Eingriff – die möglichen Folgen sind Infektionen, Blutungen, Unfruchtbarkeit und Tod.
Noch ein Beispiel: In Ländern, in denen liberale Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch gelten, in denen der Zugang zu medizinischer Versorgung auch im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs staatlich geregelt ist und vielleicht sogar noch der Zugang zu Verhütungsmitteln, sind die Zahlen gesundheitsgefährdender Abbrüche gering und die Komplikationsraten niedrig. Ursache: Liberale Gesetzgebung, gute Versorgung – Wirkung: niedrige Abbruchzahlen, gutes Outcome.
Das klingt nicht nur logisch, das ist auch statistisch nachweisbar [15, 16, 17, 18, 19, 20].
Abtreibungsgegner*innen wollen Abbrüche nach Möglichkeit in jeder Form verbieten.
Ungewollt Schwangere werden in die Illegalität gezwungen oder dazu ins Ausland zu gehen, sofern sie es sich leisten können. Wenn nicht, dann haben sie die Möglichkeit mit ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit zu zahlen, an einem versuchten Abbruch zu sterben oder ein Kind auszutragen, das sie eigentlich nicht wollen. Von den möglichen Komplikationen einer Schwangerschaft und einer Geburt fangen wir an dieser Stelle gleich gar nicht erst an [siehe hierfür auch 21]. Das ist die menschen- und v.a. frauenverachtende Realität, die sich Abtreibungsgegner*innen wünschen. Das sind die Menschen, mit denen Sie sich gemein machen, Herr Spahn.
Häufig wird Betroffenen vorgeworfen, Sie hätten halt besser aufpassen müssen, um nicht schwanger zu werden. Als die sichersten Methoden zur Verhütung einer Schwangerschaft gelten die Pille und die Kupferspirale. Bei beiden muss man mit Nebenwirkungen rechnen. Aber Nebenwirkungen mal hinten angestellt: Weder die eine noch die andere Verhütungsmethode ist zu hundert Prozent sicher. Das behaupten wir nicht einfach so, das ist wissenschaftlich nachweisbar. Der sogenannte Pearl Index beschreibt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass bei 100 Personen, die eine Verhütungsmethode ein Jahr lang anwenden, eine Schwangerschaft auftritt [21].
Lassen Sie uns das mal anhand eines Beispiels veranschaulichen: Nehmen wir einmal an, wir beobachten 100 hetero- oder bisexuelle Mädchen, die ab ihrem 15. Geburtstag sexuell aktiv und fruchtbar sind. Legen wir einfach mal fest, diese fruchtbare Zeit umfasst 35 Jahre und der Pearl Index ihrer Verhütungsmethoden ist mit 0.1 sehr gut.
Setzt man diese Zahlen in die recht einfache Gleichung für den Pearl Index ein und löst nach der Anzahl der Schwangerschaften auf, kommt man auf 3,5 ungewollte Schwangerschaften. Bei 1000 Frauen sind wir schon bei 35 ungewollten Schwangerschaften, bei 10 000 bei 350 usw. – statistisch gesehen, bei optimaler Wirkung des Präparats und bei optimaler Anwendung.
Dann hat man noch nicht beachtet, dass Individuen auf verschiedene Präparate verschieden reagieren und dass Fehler zwar bedauerlich, aber nun mal menschlich sind. Stichwort „Theorie und Praxis”.
Lieber Herr Spahn, was das auf die fruchtbare Bevölkerung Deutschlands hochgerechnet bedeutet, können Sie sich selbst ausrechnen.
Zurück zu den Fakten. Wie bereits erläutert, werden wir in unserem Arbeitsalltag einmal mit vielen Frauen zusammenarbeiten, sowohl als Kolleg*innen als auch als Ärzt*innen mit unseren Patient*innen.
Wie sieht die Lebens- und Arbeitsrealität für Frauen im Deutschland des 21. Jahrhunderts aus?
Der größte Teil der sogenannten unbezahlten Arbeit in Form von Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit wird laut Böckler Stiftung von Frauen geleistet. „Solange das so bleibt, ist eine Gleichstellung in Beruf und Gesellschaft nicht erreichbar” [22].
Frauen sind besonders davon bedroht in sogenannte atypische Arbeitsverhältnisse und damit in prekäre Arbeits- und Lebensumstände abzurutschen [23].
Die größten Risikofaktoren in Deutschland im Alter unter die Armutsgrenze zu fallen, sind eine Frau und alleinerziehend zu sein [24, 25].
Lassen Sie diese Fakten einfach einmal auf sich wirken, Herr Spahn, denn Sie als Gesundheitsminister sollten sich dafür interessieren. Diese Fakten prägen den Alltag unserer Kolleg*innen aus der Ärzteschaft und Pflege und den Alltag vieler unserer künftigen Patient*innen. All diese Fakten werden wesentlicher Teil unseres Berufsalltags sein. Und Sie Herr Spahn, machen es uns zum Vorwurf, wenn wir uns darüber beschweren. Wir schlagen Ihnen vor, dass sie sich als unser Gesundheitsminister, statt sich über Maßstäbe zu wundern, mit Fakten beschäftigen.
Wir würden es Ihnen jedenfalls danken.
Ihre Medical Students for Choice
Literatur:
[1] http://www.jens-spahn.de/assets/docs/2017_01_27_Lebenslauf_Jens_Spahn.pdf
[5] https://www.aerztekammer-bw.de/10aerzte/40merkblaetter/10merkblaetter/aufklaerungspflicht.pdf
[6] http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/76.html
[7] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__219a.html
[8] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218.html
[9] https://www.bundestag.de/blob/541290/4654eee8823c4fd7efb68cc1d85b1954/wd-7-161-17-pdf-data.pdf
[12] https://www.zeit.de/politik/2018-03/spahn-abtreibung-gesundheit
[13] https://home.uni-leipzig.de/schreibportal/korrelation-als-kausalitaet/
[14] http://www.who.int/reproductivehealth/topics/unsafe_abortion/hrpwork/en/
[15] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673611617868
[16] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673609617992
[17] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673609615452
[18] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673612620091
[19] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673607615566
[20] https://ajph.aphapublications.org/doi/abs/10.2105/AJPH.2012.301197
[21] https://www.springer.com/de/book/9783540328674
[22] https://www.boeckler.de/108549_108559.htm
[23] https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_418_132.html
Hat dies auf Attitudeblog rebloggt und kommentierte:
Jetzt melden sich auch Medizinstudent*innen zum §219a zu Wort, die „Berlin Medical Students for Choice“
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